„Kein deutscher Land“ – Ein Abend, der unsere Ansichten in Frage stellen soll

Es ist Freitag, der 07.04.2017,  15:00 Uhr. Der Aufbau des Bühnen- und Zuschauerraums im Bildungszentrum Tor zur Welt läuft auf Hochtouren. Die Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums sind schon ganz aufgeregt und lenken sich mit ausgelassenen Gesprächen und lauter Musik ab, die durch die Boxen der Aula den Aufbau der 400 Stühle dirigiert und rhythmisiert.  Zeitgleich kapert in Stockholm ein Attentäter einen LKW, den er durch eine Fußgängerzone hindurch in ein Kaufhaus fährt. Ein Kind, zwei Frauen und ein Mann werden dabei getötet, 15 weitere werden verletzt. Aktueller kann die Thematik der Jugendtragödie „Kein deutscher Land“ nicht sein. Dabei werfen nicht nur die Ereignisse des selbigen Tages einen blutigen Schatten auf die Premiere dieses Stückes, sondern auch die zeitnahen Attentate von St. Petersburg und Alexandria.

Die Veranstaltung ist ausverkauft, in den letzten Reihen das Gedränge groß und es müssen noch weitere Stühle aufgestellt werden. Die letzten Nachzügler treten noch in den großen Saal, der durchzogen ist mit Girlanden, die jeweils in schwarz, rot und gelb von der Decke hängen. An jeder Girlande nur eine Farbe.

Erst im Laufe der Aufführung wird den Zuschauern deutlich werden, dass jede Farbe für einen der drei Jugendlichen stehen soll, deren gemeinsamer Nenner die Ausgrenzungserfahrung und das Scheitern in und an unserer deutschen Gesellschaft bilden.

Es wird ein Abend sein, „[…] der zum Nachdenken anregen und unsere Ansichten in Fragestellen soll“, heißt es in der Eingangsrede vor der Aufführung. In dieser werden die Zuschauer auch auf die Entwicklung des Stücks hingewiesen, das sich von einer Komödie, die sich humoristisch mit dem Deutschsein auseinandersetzen wollte, zu einer Tragödie entwickelte.

Diese Jugendtragödie erzählt die Geschichte von Patrick, Salim und Emil; drei perspektivlosen Jugendlichen, die nach Halt in unserer Gesellschaft suchen.

In den drei Handlungssträngen wird die anfängliche Ausgangsfrage nach dem Deutschsein, ganz anders betrachtet und hinsichtlich der Zugehörigkeitsfrage angegangen. Ob die Klärung dessen einen blutigen Ausgang nimmt, wie es das Werbeplakat andeutet, auf dem die Umrisse der BRD zu sehen sind, die blutrot im Wasser verwischen, soll hier aber nicht vorweggenommen werden.

 

Während die Menschen in Stockholm zu diesem Zeitpunkt trauern und in Angst versetzt sind, soll das Publikum an diesem Abend in Wilhelmsburg Ruhe bewahren.

Die Zuschauer werden in der einleitenden Rede darauf hingewiesen, dass während der Aufführung Anschläge passieren werden, Panik ausbricht und die Schauspieler immerzu durch die Gänge in den Bühnenbereich auf- und abtreten werden.

Ruhe bewahren sollen die Zuschauer, denn im Gegensatz zu den blutigen Ereignissen in Stockholm, St. Petersburg und Alexandria, können sich alle an diesem heutigen Abend gewiss sein, dass ihnen hier nichts passieren wird – an diesem heutigen Abend, jedenfalls.

Im Laufe der Aufführung wird aus soziologischer- und kulturkritischer Perspektive betrachtet bzw. dargestellt, was mit Jugendlichen passieren kann, die sich in unserer Gesellschaft ausgegrenzt und nicht zugehörig fühlen – im schlimmsten Szenario: ein Brandanschlag, ein Bombenattentat und ein Amoklauf.

Die drei Handlungsstränge werden nach der Exposition durch die Geschichte von Yeter, der Schwester Salims, und Rebekka, seiner Freundin, in der Katastase verdichtet.

Zudem wird das Drama auf dem Weg zum Höhepunkt durch einen kommentierenden Chor und Beiträge an zwei Mikrofonen ergänzt. Die Mikrofonsprecher tragen hierbei schwarze Augenbinden und verbalisieren auf einer Metaebene individuelle Erfahrungen, allgemeine Themenaspekte oder Begrifflichkeiten, um eine Hilfestellung zur Rezeption der unterschiedlichen Handlungsstränge zu bieten.

„Ich bin positiv überrascht, wie gut und verständlich alle Perspektiven dargestellt wurden. Vor allem die Szene, in der alle im Chor sprachen, fand ich super und der plot twist war echt nicht voraussehbar, ich war geschockt“, erzählt eine Studentin der Universität Hamburg im Nachgespräch.

Diesen Eindruck werden jedoch nicht alle Zuschauer teilen, da das Stück für einige komplex und undurchschaubar bleibt. Doch genau darum geht es scheinbar bei dieser Jugendtragödie, die von jedem Winkel und jeder Ebene aus anders zu betrachten ist.

„Wir arbeiten mit Leerstellen, diese Leerstellen müssen Sie füllen. Entweder mit Ihren Erfahrungen und Kenntnissen, die Sie mitbringen oder mit ihren Vorurteilen. Sie sind dazu aufgefordert, einen roten Faden zu spinnen – entlang dieser Handlung“, mit dieser Ansage wird somit schon zu Beginn der Aufführung verdeutlicht, dass das Publikum hier kognitiv aktiv beteiligt sein wird bzw. sein muss.

„Das hat die ohnehin schon hohen Erwartungen noch mal übertroffen!“, bekundet eine Lehrerin, die auch schon das vorherige Theaterprojekt „Krieg. Wohin würdest du fliehen?“ besuchte.

Die 24 diesjährigen BERTINI-Preisträger aus dem 12. Jahrgang bewegten nämlich im Vorjahr das Publikum dazu, einen Perspektivwechsel einzugehen, um Stellung zu der Flüchtlingsproblematik zu beziehen.

In diesem Jahr gelingt es den Schülerinnen und Schülern erneut, das Publikum in ihren Bann zu ziehen, um zu einem Umdenken hinsichtlich der sozialen Probleme und gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland beizutragen, die sich mittlerweile zu einem internationalen politischem Problem entwickelt haben.

Patrick erhält seine Antworten in der rechtsradikalen Szene, Salim findet Halt und Akzeptanz bei den Neo-Salafisten und Emil bleibt bei den ganzen Ereignissen nicht nur gesellschaftlich ausgeschlossen, sondern auch in dem Stück relativ „unerzählt“. Sein Zufluchtsort sind Kriegsvideospiele und ein mentales Racheszenario.

Die Ereignisse überschlagen sich und zwischen „Heil Hitler“, „Allahu Akbar“, Textphrasen aus dem Grundgesetz, Goethes west-östlichem Diwan, google-Weisheiten und wissenschaftlichen Schriften, kommt es zu Verleumdungen, Diffamierungen, Vergewaltigungen, Brandanschlägen, Attentaten sowie Mord und Todschlag.

Die Schülerinnen und Schüler gehen wieder provokativ vor und eröffnen ganz klar auch einen Diskurs dahingehend,  wie weit Schultheater überhaupt gehen darf.

In diesem kontroversen Vorgehen wird der 12. Jahrgang vom 20-köpfigen Theaterkurs aus dem 11. Jahrgang unterstützt. Gemeinsam wurde das Stück erarbeitet, sodass es sich zu einem Großprojekt entwickeln konnte. Hierdurch konnten besonders die chorischen Elemente wirkungsvoller umgesetzt werden.

„Die Choreografien mit dieser großen Gruppe und das Sprechen im Chor an sich haben mich sehr beeindruckt!“, bekräftigt ein Zuschauer, der sich mit anderen aus dem Publikum im Nachhinein zu den Darbietungen des Abends austauscht.

Bewusst wurde in diesem Stück der Chor als theatrales Mittel gewählt, um zu große Handlungslücken zu verengen und vor allem emotional tiefgreifende Szenen für den Zuschauer zu relativieren. Denn diese ergreifen den Zuschauer zu Hauf: ein dumpfer Schrei, der durch Hände hindurch ertönt, die den Mund eines bewegungsunfähigen Spielers zudrücken, während seine Freundin im Hintergrund vergewaltigt wird. Ein Klageschrei, der in einer apathischen Stille endet, während ein todbringendes Messer aus der Brust des Bruders gezogen wird, oder viele weiter Szenen erscheinen nur durch kommentierende Übergangsszenen und der Klavierbegleitung erträglich.

Eine Zuschauerin bekundet wie außergewöhnlich und mitreisend die Aufführung sei, stellt aber zugleich die Frage: „[…] und mit wem kann ich jetzt sprechen, um das alles verarbeiten zu können?“

Auf den Verarbeitungsprozess zielt scheinbar das gesamte Theaterprojekt ab, der angesichts der aktuellen Verhältnisse in unserem Land mehr als notwendig erscheint. Denn wie kann man überhaupt die Zugehörigkeit zu diesem Land klären, wenn die Ambivalenz hinsichtlich des „Deutschseins“ eine Definition grundsätzlich verhindert?

So ruft der Chor in einer Szene wiederholt: „Wenn die Deutschen nicht wissen, wer sie sind, werden Fremde über sein bestimmen“, was sich scheinbar zu einer zentralen Aussage des Stücks entwickelt. Zu welchem „Deutschsein“ oder Deutschland sollen sich somit unsere Heranwachsenden verbunden fühlen?

 

Wer eine konkrete Antwort hierauf zum Ende der Aufführung erwartet, wird enttäuscht sein. Es werden eher Problemursachen und Lösungsansätze angerissen, die je nach gesponnenem roten Faden einen anderen Schwerpunkt setzen. Ein wichtiges Anliegen kommt aber klar rüber: Man muss sich stets mit den Ursachen unserer gesellschaftlichen Probleme auseinandersetzen und nicht nur mit deren Symptomen.

 

Der Abend endet mit einer überraschenden Wendung im Plot und einem langanhaltenden tosenden Beifall aus dem 400-köpfigen Publikum.

 

 

Homepage des Theaterprojekts: https://keindeutscherland.jimdo.com/

Artikel zur Premiere (S.12-13): http://www.inselrundblick.de/Archiv/2017/2017%2004.pdf